Na gut, diese Überschrift ist eine absichtliche Übertreibung. Damit Sie diese Zeilen lesen. Der Profi nennt es "Clickbaiting" (vom englischen bait
= Köder) und verdient sein Geld mit den permanenten Werbeeinblendungen am Rand der Seite. Der Artikel wird in der Regel von Sekunde zu Sekunde uninteressanter und erfüllt nicht das, was die Überschrift verspricht.
Journalisten lernen an der Universität, dass unser Gehirn auf die Erkennung und Abwehr von Gefahr programmiert ist. Nur wer in der Evolution permanent vorsichtig war, überlebte. Gefahr zu vermeiden war immer wichtiger als positiven Dingen zu folgen. Wer angesichts eines Baumes voller reifer Früchte den lauernden Feind übersah, machte seinen letzten Fehler. Leider haben bestimmte Formen des Journalismus (zum Glück nicht alle) dieses Prinzip zur Grundlage ihres Schreibens gemacht.
Die Worte "Zahnarzt!" und "Zahn-" sind bei vielen Menschen latent mit Gefahr verbunden und ein bestehender Alarmknopf im Gehirn. Die negativen Assoziation mit Zahnschmerzen, Angst, hohen Kosten etc. bestehen schon und brauchen nur noch ein kleines Signal, ein "verdächtiges Rascheln im Gebüsch".
Gerne verwenden Journalisten weitere "Anker", d. h. mit Bedeutung und Assoziationen (möglichst negativen) gefüllte Wörter, die sie zur Dramatisierung einsetzen. Wir können uns nicht wehren: Unser Gehirn schlägt Alarm und möchte die Gefahr erkennen und einordnen: Schlange im trockenen Laub? Feuer im Wald? Feind in meinem Rücken?
Jeden Tag durchstöbern Journalisten die Informationsflut dieser Welt auf der Suche nach guten Geschichten, notfalls auch nach einem guten Köder, hinter dem keine Geschichte steht. Leider ist oft nicht ihr Interesse, wertvolle Informationen heraus zu destillieren und Sachaufklärung zu betreiben, sondern Sie über zwei, drei Klicks in das Werbeuniversum ihres Verlages zu locken. Also: Vorsicht bei alarmierende Überschriften! Es könnte ein Köder sein.
Und was ist nun mit den Zahnbürsten?
2015 und 2021 gab es jeweils eine Flut von Meldungen in online-Medien (u. a. Spiegel-plus) über gefährliche Keime / eklige Darmbakterien auf Zahnbürsten.
Seit Jahrzehnten wird die Kontamination von Zahnbürsten mit Bakterien untersucht. Logischerweise müssen diese, da sie ja unsere bakteriellen Biofilme im Mund durchpflügen, voller Keime sein. Auch wurde untersucht, in wie weit Bakterien sich auf der Zahnbürste weiter vermehren können und ob sie quasi eine "Re-Infektion" der Mundhöhle verursachen. Nach dem Motto: "Ich bürste meine Bakterien erst weg und dann wieder drauf..."
Heraus kam folgendes: In unserem Mund treiben sich regelmäßig 500-600 Keimarten herum. Eine bunte Mischung, die auch Hautbewohner, Darmbakterien und Küchenkeime enthält. In planktonischer Form, d. h. einzeln und unorganisiert, sind diese Bakterien ungefährlich. Sie werden verschluckt und landen im Magen im einem Salzsäure-Bad, womit ihr Leben in der Regel endet. Soweit so uninteressant.
Bakterien, die sich in einem Biofilm, d. h. in einer organisierten Lebensform auf einer Körperoberfläche (z. B. den Zähnen) befinden, entwickeln tatsächlich gemeinsam "Superkräfte" und können Schaden (z. B. Karies) anrichten. Das ist der Grund, warum es sinnvoll ist, diese stabilen Biofilme mechanisch durch das Zähneputzen aufzulösen und die Bakterien wieder in die planktonische Lebensform zu überführen. Soweit altbekannt und nicht aufregend.
Das auch eigentlich harmlose Bakterien in besonderen Fällen zu einem Problem werden können, ist lange bekannt. Bei einer besonderen Immunschwäche des Körpers kann auch eine Zahnbürste zum Ausgangspunkt einer sog. opportunistischen Infektion
werden, so wie viele andere Alltagsgegenstände auch. Sie kennen die Bilder von Patienten, die während ihrer Chemotherapie unter einem Plastikzelt leben. Deren Zahnbürsten müssen sterilisiert sein. Aber was ist mit der Zahnbürste, die in meinem Bad steht?
Schon vor vielen Jahren wurde untersucht, ob sich relevante Bakterienmengen durch Vermehrung im Borstenfeld der Zahnbürste bilden können. Ergebnis: Moderne Bürsten mit hochwertig verarbeiteten Nylonborsten trocknen sehr schnell ab und entziehen so den Bakterien, die auf eine feuchte Umgebung angewiesen sind, die Lebensgrundlage. "Naturbürsten" aus Holz und mit unsauber befestigten Naturborsten schnitten deutlich schlechter ab. Daraus wurden folgende Anwendungstipps abgeleitet:
- Verwendung einer hochwertigen Zahnbürste mit Nylonborsten
- Zahnbürste nach der Benutzung unter dem Wasserhahn abspülen
- Zahnbürste auf dem Waschbeckenrand mit dem Bürstenkopf nach unten abklopfen und so vortrocknen
- Zahnbürste mit dem Kopf nach oben in einen Halter oder Becher stellen und vollständig trocknen lassen
- Bei häufigem Zähnebürsten zwei oder drei Bürsten abwechselnd verwenden, damit sie zwischen den Benutzungen
völlig durchtrocknen können
- Zahnbürsten verschiedener Personen sollten nicht getauscht werden und sich beim Trocknen nicht berühren
- Zahnbürsten von Personen mit ansteckenden Infektionskrankheiten müssen deutlich separat gelagert werden und sollten nach der Erkrankung entsorgt werden
- Zahnbürsten, die verschlissene Borsten oder verkrustete Ablagerungen aufweisen, sollten ausgetauscht werden
- Regelmäßige "Desinfektionen" von Zahnbürsten sind unnötig
All das kennen Sie vermutlich seit Jahren. Immer noch langweilig. Wann kommt den endlich Spannung in die Geschichte?
Jetzt! Wir lassen den Profi Frank Thadeusz vom Spiegel sprechen, der um 00.49 Uhr endlich mit seiner Geschichte fertig war:
"Wir holen uns resistente Bakterien in den Mund – ein Schreckensszenario"
Markus Egert ist Professor für Mikrobiologie der Hochschule Furtwangen. Im Interview spricht er über die Gefahr, die von Zahnbürsten ausgeht. Spiegel: "Herr Egert, Mikrobiologen aus den Vereinigten Staaten haben in einer Studie festgestellt, das sich auf Zahnbürsten Mikroben vermehren, die gegen Antibiotika resistent sind. Was steckt hinter dieser beunruhigenden Meldung?
Weiter geht es im Bezahlbereich
von Spiegel plus. Ihr Alarmsystem sollte jetzt nach Ansicht des Autors hinreichend aktiviert sein. Resistente Bakterien, Schreckensszenario, Gefahr, die von Zahnbürsten ausgeht, dazu noch ein echter Professor als Zeuge. Kaufen Sie schnell!
Wichtig bei jeder guten Geschichte ist das
Überaschungsmoment. Das beim Betätigen der Toilettenspülung ein Aerosolnebel voller Darmbakterien entsteht, der sich auf alle Gegenstände im Bad verteilt, klingt wirklich eklig. Seit Corona wissen wir, das es Aerosole gibt. Und das Bakterien gegen Antibiotika resistent werden können, wissen wir auch. Und jetzt greifen mich auch noch superresistente Klobakterien auf meiner Zahnbürste an! Wobei: Wenn diese Bakterien aus meinen Fäkalien stammen, haben mich die superresistenten Bakterien nicht schon längst besiedelt...?
In der Druckversion des Interviews
(Spiegel Nr.7 vom 13.02.2021) zeigt sich, das Prof. Egert von der Hochschule Furtwangen überhaupt keine eigenen Untersuchungen zu dem Thema unternommen hat, sondern sich von einer amerikanischen Studie zu einigen Spekulationen hat inspirieren lassen, die in der amerikanischen Studie nicht vorkommen. Auf die Frage "Woher kommen die Keime mit den Resistenzen?", antwortet er: "Aus der Luft, aus dem Wasser, womöglich
sogar aus dem Abspülwasser der Toilette. Interessant ist, was auf der Zahnbürste dann womöglich
passiert..."
Warum untersucht Prof. Egert den Sachverhalt nicht selbst und überprüft, ob Antibiotika-resistente Darm- oder Wasserbakterien über den Weg des Aerosols auf der Zahnbürste landen, sich dort vermehren und ihre Resistenzgene an die sich dort befindenden Mundbakterien weitergeben, die beim erneuten Gebrauch der Zahnbürste den Menschen dauerhaft besiedeln? Mit den Ergebnissen in der Hand könnte er die Fachwelt informieren und dann gerne auch die Presse.
Immerhin gibt er noch den Ratschlag, nicht auf das Zähne putzen zu verzichten, sondern die Zahnbürste nach der Benutzung abzuspülen und zu trocknen sowie auf Desinfektionsmaßnahmen zu verzichten. Das allerdings ist nun wirklich nicht neu (s. o.).
Ein Blick auf die dem Artikel zugrunde liegende amerikanische Studie
ist ernüchternd:
Blaustein, R.A., Michelitsch, LM., Glawe, A.J. et al. Toothbrush microbiomes feature a meeting ground for human oral and environmental microbiota. Microbiome 9, 32 (2021). https://doi.org/10.1186/s40168-020-00983-x
- Die Studie analysierte den Gesamtpool an Genen, den alle Bakterien zusammen (!) auf verschiedenen Zahnbürsten
(34 Stück) hinterließen. (Dafür müssen diese Keime aber nicht lebendig sein.)
- Die Studie stellte fest, dass sich auf Zahnbürsten Keime aus dem Mund wie auch aus der Umwelt (Wasserhahn,
Duschkopf) sammeln.
- Die Studie stellte fest, das nicht alle im Mund vertretenen Keime auf den Zahnbürsten gefunden werden konnten. Es
fanden sich mehr Resistenzgene (gegen Antibiotika) als in Vergleichsgenpoolen der Mundhöhle.
- Die Studie fand einen hohen Anteil von Resistenzgenen gegen Triclosan. (Triclosan ist ein antibakterieller Hilfsstoff in
Kosmetika und Zahnpasten, wird in Deutschland aber kaum noch in Zahnpasten verwendet.)
- Die Studie bezeichnet sich selbst als Pilotstudie und stellt die Frage, ob Zahnbürsten ein Ort sein können, an dem
Bakterien Resistenzgene austauschen können. Weitere Forschung zu diesem Thema sei sinnvoll.
Die Studie ist eine typische Pilotstudie, die Fragen stellt und keine Antworten gibt, soweit so gut. Von Toilettenspülungen, Aerosolen oder Darmbakterien ist mit keinem Wort die Rede, und die Frage nach der Weitergabe von Resistenzgenen zwischen verschiedenen Bakterienarten ist auch nicht neu. Es wird auch kein Schreckensszenario angekündigt. Das Fazit dieser Studie ist, das weitere Forschung für sinnvoll gehalten wird.
Professor Egert hat 2019 ein Buch mit dem Titel "Ein Keim kommt selten allein
- Wie Mikroben unser Leben bestimmen und wir uns vor ihnen schützen" (ISBN: 978-3548061115) veröffentlicht. Vielleicht sollen ein paar "knallige" Interviews die Verkaufszahlen ankurbeln?
Frank Thadeusz vom Spiegel führte schon im Jahre 2017 mit Professor Eggert ein Interview zu Thema Keime im Haushalt. Sie können es kostenfrei unter
https://www.spiegel.de/spiegel/mikrobiologe-markus-egert-ueber-gefaehrliche-keime-im-haushalt-a-1183881.html
nachlesen. Hier finden sie auch den sinnvollen Ratschlag, beim Spülen den Toilettendeckel zu schließen und sich danach die Hände zu waschen. Klingt irgendwie nicht sehr brisant.
Das Thema möglicher Corona-Übertragungen durch Aerosole aus der Toilette kochte im September 2020 hoch, es ging um eine chinesische Studie, die in Hochhäusern mit zentralen Lüftungsrohren eine Ausbreitung der Lungenkrankheit auch auf diesem Wege für möglich hielt. Von Zahnbürsten und resistenten Bakterien war bei den chinesischen Forschern nicht die Rede, es ging um das Einatmen von Corona-Viruspartikeln und nicht um Mundhygiene.
Mein Fazit:
- Es gibt keinen Grund, Zahnbürsten über das einfache Verfahren der Trocknung hinaus zu desinfizieren.
- Von so getrockneten Zahnbürsten geht keine Gefahr für die Gesundheit von Menschen mit einem intakten Immunsystem aus.
- Grundlagenforscher sollten sich mit Spekulationen zurückhalten, wenn sie selber keine klinischen Studien durchführen und für ihre Thesen auch keine klinischen Studie anderer Wissenschaftler benennen können.
- Einfache Hygieneregeln, die konsequent angewendet werden, sind effektiver als spontane Desinfektionsorgien.
- Die Geschichte vom "Schreckensszenario Zahnbürstenmikrobiom" ist eine eine ärgerliche Mischung aus wissenschaftlicher Spekulation, freier Assoziation und geschickter Kombination im Sinne eines Clickbaiting.
Übrigens: Autor Frank Thadeusz ist Experte auf vielen Gebieten. Seine letzten Artikel 2021 tragen so schöne Titel wie
- Wie Dschingis Khan wirklich starb. Vielleicht.
- Gibt es wirklich Polizeihunde mit Supernasen?
- Neue Erkenntnisse zum Aufstieg der Hanse - Die Mafia des Mittelalters
Alle Titel bei Spiegel plus. Nur ein Titel ist kostenfrei: Älteste Glühbirne der Welt - Das Lämpchen, das seit 120 Jahren brennt.
Mir ist jedenfalls auch ein Licht aufgegangen. Der Pokal für das bisher schönste Clickbaiting im Bereich Zahnheilkunde 2021 geht an Frank Thadeusz!